Wahrnehmen: alles ist mit allem verbunden – die 6. Kompetenz der Spirituellen Intelligenz

In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere.

Gotthold Ephraim Lessing

Dass wir Menschen nicht solistisch auf dieser Erde leben, sondern vielmehr alles mit allem verbunden ist, galt lange Zeit eher als eine Einsicht in den religiösen Weisheitslehren. Doch spätestens seit dem letzten Jahrhundert und dem Aufkommen der Klimakrise ahnen wir alle, dass das Leben viel weitreichender verzweigt ist, als wir das mit bloßem Auge wahrnehmen können.

Die Allverbundenheit gilt nicht nur für die Fragen der Ökologie. Es gilt ebenso für alle anderen Bereiche des Lebens.

Welches Shampoo wir nutzen, welche Kleidung wir kaufen, welche Transportmittel wir bevorzugen, ob wir den Vorgarten mit Steinen oder mit Pflanzen ausstatten, all diese Entscheidungen haben Folgen und bewirken etwas in der näheren oder ferneren Welt.

Auch in der modernen Wissenschaft ist der Gedanke der Vernetzung allen Lebens, ein Gedanke, den die spirituellen Traditionen intuitiv immer wussten, inzwischen gut erforscht. Inzwischen gehen die Forschungen sogar so weit, dass nicht nur im Bereich des sichtbaren biologischen Lebens alles miteinander vernetzt ist. Selbst die Wirkung von Gedanken und Gefühlen sind erforscht. So messen Psychologen in Test den Speichelfluss des Probanden beim Verfolgen eines Bisses in eine Zitrone durch eine andere Person und können daraus auf die Aktivierung der Spiegelneuronen schließen. Die Fähigkeit von Mitgefühl und Empathie braucht diese, um eingeübt werden zu können.

Die Forschungen der letzten 50 Jahre haben in vielen Bereichen genau diese Vernetzung des Lebens immer tiefgehender unter die Lupe genommen. Und uns gelingen so immer tiefere Blicke in Zusammenhänge, welche erst mal so nicht auf der Hand liegen. Zum Sinnbild der unsichtbaren Vernetzungen ist das Internet geworden, dessen Auswirkungen und weitreichende Verzweigungen niemand mehr durchschauen kann.

Anhand dessen, was wir gelegentlich ausschnittweise mitbekommen, ahnen wir, wie sehr alles mit allem verbunden ist.

Nun mögen Sie fragen: und was hat das mit Spiritueller Intelligenz zu tun?

Im Zusammenhang der Spirituellen Intelligenz, der Intelligenz also, die sich untrennbar mit der höchsten schöpferischen Kraft verbunden weiß, erkennen wir, dass das ganze Universum ein in sich lebendes Ganzes ist. Das Universum ist eben nicht, was wir Menschen über Jahrhunderte gedacht haben, ein totes etwas, das durch die ordnende Hand des Menschen bearbeitet werden muss. Und auch nicht etwas, was wir jemals ganz verstehen werden.

Mit ihm geht es uns wie mit der Entschlüsselung der Zellen. Je mehr wir hineinzoomen, um so mehr Einzelheiten entdecken wir, die auf wundersame Weise wieder miteinander verbunden sind. Je tiefer wir einsteigen, um so sichtbarer wird, dass das Universum ein intelligentes, sich ständig selbst organisierendes System ist, in dem wir Menschen ein kleiner Teil eines großen Ganzen sind. Manchmal entdecken wir zudem, dass wir uns als Teil eines Feldes erleben, welches mit unendlich vielen Informationen gefüllt ist. Wer jemals in Aufstellungen mitgewirkt hat, hat solches vermutlich schon erfahren. 

Es gilt als eines der Spirituellen Prinzipien, dass unser Verstand zu klein ist zu verstehen, in welch umfassender Weise alles mit allem verbunden ist.

Ja, es wäre sogar widersinnig anzunehmen, dass uns solches jemals gelingen kann. Denn als Teil des Ganzen können wir nicht den Überblick für das Ganze haben, höchsten eine Ahnung des Ganzen. Darum gehört es zu den Übungen der Spirituellen Intelligenz dazu, sich in der Demut des unvollständigen Erkennens zu üben und sich der Kraft anzuvertrauen, die alles bewegt. Und im gleichen Maße, in dem wir Demut üben, sind wir gefordert, die Verantwortung zu übernehmen für das, was wir denken oder tun. 

Gerade dieses Spannungsfeld von Demut der Selbstbeschränkung und Übernahme von Verantwortung für das eigene Denken und Handeln ist im Kontext der Spirituellen Intelligenz das anspruchsvolle Übungsfeld.

Als Denk- und Meditationsübung können uns hierbei Gedanken begleiten, die der libanesische Philosoph Mikhail Nimay in The Book of Mirdad so formuliert hat:

  • „Denke so, als wäre jeder deiner Gedanken mit Feuer in den Himmel eingebrannt, damit jeder ihn sehen kann. Denn in Wirklichkeit ist er das.

  • Sprich so, als wäre die ganze Welt ein einziges Ohr, das hören will, was du sagst. Und in Wirklichkeit ist sie das.

  • Handle so, als würde jede deiner Taten auf deinen Kopf zurückprallen. Und in Wirklichkeit tun sie das.

  • Wünsche dir also die Dinge so, als wärst du der Wunsch. Und in Wirklichkeit bist du das.“

Jede Idee der Trennung zwischen meinem Denken und dem, was daraus folgt, oder meinem Handeln und Ereignissen, die um mich herum stattfinden, erweist sich damit letztlich als Illusion.

Das, was wir als gegeben in unserer Welt erfahren, ein Leben in Dualitäten, wird damit in Frage gestellt. Wir erfahren es, und doch ist es nur immer Teil einer viel größeren Wirklichkeit. Dieser Gedanke hat Menschen immer wieder fasziniert und die Sehnsucht in vielen über Jahrhunderte geweckt, so etwas wie die Nonduale Einheit erfahren zu wollen.

Die vielen spirituellen Wege, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, können wir in diesem Sinne als Versuche verstehen, dieses „alles ist mit allem verbunden“ immer tiefer erfahren zu wollen. Menschen, die solches erleben, beschreiben es als kostbare Momente und als eine Erfahrung des Ankommens.